Heute ging ich am Hauptbahnhof vorbei, weil ich zur Post wollte. Unten in der Halle wartete eine Frau in meinem Alter mit zwei Kindern. Eines davon saß auf der ersten Stufe der Treppen. Das zweite war deutlich jünger und klammerte sich an seine Mutter. Sie hatten eine Reisetasche und zwei Lidl-Tüten bei sich. Ich schaute sie an und wollte eigentlich etwas fragen, aber es kam kein Wort heraus. Ein dicker Kloß im Hals schnürte mir die Stimme ab, und es flossen nur die Tränen.
Seit fast 30 Jahren lebe ich in Deutschland. Ich kam damals als 17-jähriger Flüchtling allein mit dem Bus am 27.12.1993 im Hamburger Busbahnhof an. Ich hatte eine Sportreisetasche und meinen Rucksack dabei. Im Rucksack befand sich mein ganzes Leben, darunter ein Reisepass und meine Tagebücher. Ich schrieb meine Tagebücher, als ich in Sarajevo im Keller saß. Während die Granaten detonierten und ich nachts nicht schlafen könnte, hatte ich angefangen auch kleine Kompositionen zu schreiben. Es waren kleine einzelne Zettelchen, die ich zu den jeweiligen Seiten lose in die Tagebücher reingesteckt hatte.
Als ich an der österreichischen Grenze kontrolliert wurde, musste ich alles aus dem Rucksack rausholen. Der Grenzbeamte blätterte wild in meinen Tagebüchern herum und alle meine Zettelchen fielen heraus, auch die Eintrittskarten von Konzerten, die ich als Erinnerung aufbewahrt habe. Ich ließ alles liegen und rannte umher, um meine Papierstückchen aufzusammeln. Der Grenzbeamte rannte hinter mir her und fasste mich am Oberarm. Er reichte mir meinen Pass und erzählte etwas mit ernster Miene, was ich natürlich nicht verstand.
Es war sehr kalt und es lag Schnee. Meine Notizen sind nass geworden und trotzdem steckte ich die in mein Heft.
Meine Hände waren so kalt, wurden blau und steif vor Kälte und taten weh. Ich habe die ganze Fahrt keine Sekunde geschlafen. Ich musste in München umsteigen, um weiter nach Hamburg zu fahren. Auf einem Zettel stand zwar die Adresse von meinem Bruder, den er mir mit einem Brief zugeschickt hatte. Aber er hatte mir geschrieben, dass wir uns am Hauptbahnhof in Hamburg treffen sollten.
Endlich angekommen, wartete ich vor einer Telefonzelle auf meinen Bruder. Doch er kam nicht. Alle waren bereits irgendwo hingegangen oder mitgenommen worden, und ich saß da alleine am Kantstein mit einer Tasche und meinem Rucksack.
Am Bahnhof trieben sich Obdachlose herum und fragten nach Geld. Ich zuckte nur mit dem Schultern und versuchte freundlich zu lächeln. Genauso wie der Junge am Bahnhof von heute. Ich habe gedacht, dass ich diese Erinnerungen irgendwo ganz sicher und tief begraben hätte. Ich dachte, sie lägen in einer Truhe, die ich verschlossen habe und die ich erst dann öffnen werde, wenn ich dazu bereit bin. Eigentlich bin ich immer noch nicht bereit dazu. Aber in letzter Zeit kommen immer mehr Erinnerungen hoch.
Stoppt den verdammten Krieg! Tut nicht so, als ob es ein Bürgerkrieg wäre, wie damals in Deutschland über Jugoslawien diskutiert wurde und wie bis heute noch diskutiert wird. Es ist eine Aggression und morgen bist du dran und sitzt vielleicht irgendwo am Bahnhof.
Autor: Marija Koefler Datum objave: 09.03.2022.