Alida Bremer ist sowohl in der kroatischen Gemeinschaft in Deutschland als auch in deutschen Literaturkreisen als hervorragende Übersetzerin aus südslawischen Sprachen und Förderin kroatischer Literatur im hiesigen anspruchsvollen Literaturbetrieb bekannt. Geboren in Split, lebt die Kulturvermittlerin heute in Münster und pendelt zwischen dem „kühlen“ Norden und dem „heißen“ Süden Europas. Ihr erster Roman mit dem Titel „Olivas Garten“ (Eichborn-Verlag, 2013) besticht nicht nur durch seine reife Kunstfertigkeit, sondern vermittelt auch viele geschichtliche Informationen, die sowohl für den kroatischen als auch den deutschen Leser gewinnbringend sind.
In der Familiensaga erzählt die Autorin über das Schicksal ihrer weit verästelten Verwandtschaft im für Kroatien tragischen 20. Jahrhundert. Anlass genug, Frau Bremer einige Fragen zu stellen.
Frau Bremer, vermute ich richtig, dass Sie schon seit langem den Wunsch hatten, ein Buch über die Geschichte ihrer Familie in Dalmatien während des Zweiten Weltkriegs und darüber hinaus bis zur Gegenwart zu schreiben? Ein bloßes Erinnerungsbuch wäre gewiss auch interessant gewesen. Sie aber haben sich für die Form einer teils dokumentarischen, teils fiktionalen Prosa entschieden. Warum für diese Mischform?
In der österreichischen Zeitschrift „Wespennest“ hatte ich 2007 einen Essay zu diesem Thema veröffentlicht. Danach habe ich ein „Grenzgänger“ Stipendium der Robert Bosch Stiftung für eine Recherchereise bekommen. Auf dieser Reise sammelte ich Fakten und persönliche Geschichten für einen Roman, denn es sollte eine fiktive Form werden – es sind Erinnerungen der Frauen aus meiner Familie, nicht meine eigenen Erinnerungen. Meine Tanten und meine Mutter waren die wichtigsten Quellen, und ich habe in den Gesprächen bemerkt, wie selektiv und fiktional jede persönliche Erinnerung ist.
Eine der Stärken der Literatur ist m.E. der Umgang mit den Widersprüchlichkeiten, die parallele Existenz vieler Wahrheiten, die Polyphonie von Erkenntnissen und Meinungen. Nur Ideologien sind eindeutig– nicht einmal die Wissenschaften bestehen heute auf dem Mythos der endgültigen Wahrheit. Deshalb bietet die Literatur für mich den besten Zugang zu den trügerischen Erinnerungen, zu den Zweifeln, zu den diffusen Gefühlen, die die Menschen in Bezug zu vielen Dingen in ihrem Leben haben. Was für den Einen eine bombenfeste Wahrheit ist, zieht der Andere schon in Zweifel, was für den Einen Gerechtigkeit bedeutet, empfindet sein Gegenüber häufig als zumindest suspekt… Dass eine meiner Großtanten von Italienern exekutiert wurde, ist ein Fakt. Wie diese Geschichte in der Familie übermittelt wurde und was ich dabei fühle – das ist Literatur.
Bei der Lektüre Ihrer Familiensaga stellt man überraschend fest, dass Frauen darin die Hauptrolle spielen, obwohl der kroatische Süden bekanntermaßen „Macholand“ ist.
Meine Mutter hatte zwei Schwestern und eine Cousine, die mit ihnen zusammen lebte, da sie eine Kriegswaise war. Die vier Mädchen hatten eine dominante Großmutter – in meinem Buch heißt sie Paulina, eine resolute Frau, die für meine Mutter die wichtigste Stütze im Leben war, da ihre eigene Mutter – im Buch und im Leben hieß sie Oliva – schwach und weich war. Oliva lebte nach der Traumatisierung im Zweiten Weltkrieg nur noch in ihrer Traumwelt. Ihre Traurigkeit war für ihren Mann ein Problem, deshalb war er häufig abwesend. Außerdem sprach dieser Großvater – ein Kommunist und Partisanenkämpfer – häufig in Klischees. Er hatte seine kommunistischen Parolen und antifaschistischen Lieder gelernt und nie mehr in Frage gestellt.
Die Frauen um ihn herum waren klüger – sie stellten alles in Frage. Sie waren viel persönlicher. Sie stellten ihre Erfahrungen über jede Ideologie. Sogar jene rebellische Urgroßmutter, eine Kommunistin und Partisanin, die im Roman Paulina heißt, hatte häufig ihre Zweifel. In jedem „Macholand“ wird die Meinung der Frauen als unwichtig abgetan. Die Männer sind dort laut und nehmen sich und ihre eigenen Taten und Meinungen viel wichtiger – nicht immer zum Wohle der Gesellschaft.
Eine besondere Stellung in Ihrem Roman haben Sie der Großmutter Oliva eingeräumt, die Alida einen Olivenhain schenkt, wie er auch stimmungsvoll auf dem Buchcover präsentiert wird. Erzählen Sie uns doch ein wenig darüber.
Meine Großmutter war in ihrer Jugend eine hübsche und lebensfrohe Frau, die sich wenig für Revolutionen und ähnliche Dinge interessierte. Sie interessierte sich viel mehr für ihren Haushalt, für ihre Kleidung und die Kleidung ihrer drei Töchter, für ein schönes Leben. Aber ihre eigene Mutter war eine Revolutionärin, ihr Bruder war ein Aktivist zunächst im Kulturverein „Bauerneintracht“ (kroatisch: Seljačka sloga), dann in der Kommunistischen Partei – er hatte auch eine Frau geheiratet, die ebenfalls aus einer Familie von Vorkriegskommunisten stammte. Mir kam es vor, als hätten die Mutter und der Bruder diese weiche und sinnliche Tochter und Schwester Oliva in ihre eigene politische Richtung gedrängt, weil sie es für das einzig richtige hielten.
Für meine Urgroßmutter und ihren Sohn kam gar nicht in Frage, dass jemand keine politische Haltung annimmt – und genau das hätte Oliva vermutlich am liebsten getan. Sie heiratete einen der Genossen, der dann „im Wald“ verschwand, sie musste ihm Verpflegung bringen, manchmal suchte sie tagelang nach seiner Einheit, während zu Hause ihre hungrigen Kinder warteten – und zur Strafe wurde sie irgendwann von den Deutschen in ein Lager verschleppt, wo sie stark traumatisiert wurde. Damit war ihr Leben eigentlich vorbei – sie kam aus dem deutschen Straf- und Arbeitslager „Ciglana“ in Belgrad zu Fuß nach Hause zurück – das sind über 600 Kilometer -, sie legte sich ins Bett und blieb krank bis zum letzten Krieg. Eine Entschädigung für ihre Internierung hatte sie nie bekommen.
Tragisch ist, dass sie auf ihre alten Tagen in einen Luftschutzkeller fliehen musste, weil die Armee ( kroatisch: „Jugoslavenska narodna armija“ ) ihren Ort angegriffen hatte, und das war die Armee, die ihr Bruder und ihr Mann von der ersten Stunde an mitgegründet hatten, denn diese Armee war aus dem Partisanenkampf entstanden… Wegen dieses Partisanenkampfes wurde Oliva damals als zivile Geisel in das Lager verschleppt. Und jetzt wurde sie im Namen des Landes, an dessen Aufbau sich ihre Familie so aufopferungsreich beteiligt hat, beschossen.
Meine Mutter und ihre Schwestern haben Grundstücke geerbt, nicht ich, aber da ich viele verwirrenden Geschichten über die bürokratischen Hürden in Kroatien gehört habe, habe ich sie für meinen Roman genutzt. Unter anderem beschreibe ich im Roman auch den Kampf, den meine Mutter und meine Tanten immer noch gegen den nun kroatischen demokratischen Staat führen, da im Sozialismus eines ihrer Grundstücke am Meer enteignet wurde. Es stimmt natürlich nicht – wie man heute gerne glaubt – dass alle Kommunisten und Partisanen privilegiert waren. Die einfachen Fischer und Bauer, wie jene aus meiner Familie, wurden ausgenutzt, die Privilegien waren eher reserviert für die Obrigkeit.
In Jugoslawien hatte meine Familie den Kampf gegen die Enteignung verloren, doch in Kroatien wurde es nicht besser, ganz im Gegenteil! Während in Jugoslawien auf diesem Grundstück ein Hotel gebaut wurde, das immerhin irgendwie der Gemeinschaft diente, hat der kroatische Staat aufgrund der undurchsichtigen Machenschaften des staatlichen Privatisierungsfonds dieses Hotel an einen „tycoon“ verschenkt, der natürlich nicht beabsichtigt, meine Familie für das Grundstück zu entschädigen. Dieser „tycoon“ gehört zu den kroatischen Neureichen, die viele ehemals staatlichen Firmen im Zuge der Privatisierung fast geschenkt bekamen, aber keine neuen Arbeitsplätze schufen, weshalb Kroatien heute in einer tiefen ökonomischen und moralischen Krise steckt.
Sie schildern sehr unterhaltsam, wie Alidas deutscher Ehemann mühsam versucht, mit „nordischer“ Logik die „südlichen“ Probleme bei Klärung der Besitzverhältnisse seiner Frau zu ergründen und dabei trotzdem seine Sehnsüchte nach diesem so „anarchischen“ Süden offenbart. Es ist allerdings spannend festzustellen, wie sich die Katasterproblematik mit dem Gewohnheitsrecht vermischt, das durchaus nicht immer schlecht war, weil sich dabei das allzu Menschliche zeigt. Kann ich davon ausgehen, dass der Olivengarten in Ihrem Roman nicht nur eine Nutzfläche darstellt, sondern auch eine Metapher ist?
Ich nutze alle Vorzüge des geordneten Nordens und bewundere die deutsche pragmatische und intelligente Art, mit der das gemeinschaftliche Leben in diesem Land geregelt wird. Und trotzdem ist mein Herz nur im Süden wirklich warm, unter Menschen wie meinen chaotischen Tanten, wie meiner lebenslustigen Mutter und meinem Vater, der sich dem Kochen, Grillen, Braten und Einlegen von Käse, Zwiebeln, Gemüse oder Nüssen widmet, um seinen Verwandten und Freunden immer das Beste anbieten zu können. Meine Familie und meine Freunde aus Kroatien – so scheint es mir manchmal – verstehen mehr vom Leben als die Menschen im Norden, weil sie mehr Wert auf die zwischenmenschlichen Beziehungen legen, als auf perfekt geordnete gesellschaftliche und ökonomische Verhältnisse.
Leider verändert sich auch das Mittelmeer mit rasender Geschwindigkeit, und diese schöne Region steckt heute in einer tiefen Krise, nicht nur in Kroatien. In meinem Roman schreibe ich auch darüber – über den Ausverkauf der kleinen Fischerdörfer oder Weinberge, die sich in Hotelanlagen und Swimmingpools verwandeln. Doch in diesen Hotels findet man nicht mehr die Lebensart, die die Region so reizvoll macht.
Ein großer Teil Ihres Romans ereignet sich im Zweiten Weltkrieg, der in Kroatien auf verschiedenen gegnerischen Ebenen stattfand – zwischen Nationalisten und Kommunisten, zwischen unterschiedlichen Nationalitäten sowie zwischen Okkupanten und Landesverteidigern. Die Handlung spielt in dem realen Ort Vodice bei Šibenik. Sie stellen fest, dass keine der Konfliktparteien unschuldig war. Alle waren Opfer und Täter zugleich. Dies halte ich für bemerkenswert angesichts der Tatsache, dass der antifaschistische Aufstand 1941-1945 unter kommunistischer Führung von nicht wenigen Kroaten bis heute verklärt wird.
Obwohl es auf beiden Seiten Opfer und Täter gab, gab es doch wesentliche Unterschiede in den Intentionen der beiden Seiten. Es stimmt, es gab Opfer und Täter auf allen Seiten, wie es vermutlich in jedem Krieg der Fall ist. Aufgrund dieser Erkenntnis finde ich Stjepan Radić bewundernswert – seinem Tod infolge eines Attentats und seinem Begräbnis kommt in meinem Roman eine zentrale Stellung zu. Denn dieser kroatische Politiker war ein konsequenter Pazifist, der an Aufklärung, an Bildung und an die republikanische parlamentarische Demokratie geglaubt hat. Es ist eine Ironie des Schicksals, dass ausgerechnet im Parlament auf ihn geschossen wurde. Nach dem Attentat und bis zu seinem Tod hat er seine Mitstreiter beschworen, auf Gewalt nicht mit Gewalt zu antworten. Das war christlich, klug und pragmatisch zugleich – ein kleines Volk muss auf seinem Weg zur Freiheit nach intelligenteren Wegen suchen als der Gewalt.
Doch die Kroaten sind wahrlich keine Ausnahme, indem sie auf Gewalt mit Gewalt antworten. Die Gewalt, mit der die Faschisten Dalmatien überzogen hatten, war so wuchtig, dass die Idee nur natürlich war. Die italienischen Faschisten haben eine plumpe Italianisierung durchgeführt, sie verachteten die Kroaten und betrachteten sie als ein unterlegenes Volk „ohne Kultur“, worüber sie sich häufig in ihren Schriften ausgelassen haben. Sie duldeten keine Andersdenkenden, und deshalb haben sie in Vodice direkt nach der Machtübernahme eine Gruppe junger Menschen als Warnung erschossen – es handelte sich um links gesinnte Jugendliche, die von einer gerechteren Welt geträumt hatten, was im Königreich Jugoslawien durchaus verständlich war, denn es war ein sehr ungerechtes Land.
Wir müssen den kroatischen antifaschistischen Kampf im internationalen Kontext sehen. Dabei sollen wir ehrlich sein, und die Verfehlungen der Kommunisten in ihrer ideologischen Ausschließlichkeit, sowie die Strategien, mit denen alle potentiellen politischen Gegner nach dem Krieg ausgeschaltet wurden, offen besprechen. Doch damit kann man die Verbrechen der Faschisten keinesfalls relativieren. Anders gesagt: Die Tatsache, dass auch Kommunisten Verbrechen begangen haben, befreit die Ustaschas keineswegs von ihrer Schuld.
Abgesehen davon beobachte ich in Deutschland, dass viele Deutsche sich gerne über die Ustaschas und ihre Verbrechen auslassen, sie gehen dann oft so weit, dass sie diesen Mitläufern der deutschen Nazis die Gestalt wahrer Dämonen zuweisen – als würden sie heimlich hoffen, dass dadurch die Verbrechen der Deutschen harmloser erscheinen.
Autor: CroExpress Datum objave: 22.06.2014.