Von Gojko Borić

Matthias Claudius schreibt in einem seiner bekannten Lieder: ‘Wenn einer eine Reise tut, so kann er was erzählen.’ Auch heute kann ein Reisender was erzählen, aber nicht jeder ist auf seiner Reise offen und aufmerksam genug, um genau und vorurteilsfrei zu berichten. So der österreichische Schriftsteller Karl-Markus Gauß in seinem Reisebuch ‘Zwanzig Lewa oder tot’ (Szolnay Verlag, Wien, 2017). Ein Kapitel seines Buches unter dem Titel ‘Das Zagreber Auge’, das in deutscher, englischer und kroatischer Übersetzung für das Zagreb Book Festival veröffentlicht wurde, soll hier kritisch besprochen werden. 
Die erste Reise des Autors nach Jugoslawien findet einige Zeit früher statt, bevor dieses unterging. Es ist eine verregnete Nacht, als er in Zagreb ankommt, wo man ihn in einer feuchten Wohnung unterbringt. Am nächsten Tag wird er zum Schriftstellerverein am Jelačić-Platz begleitet. Dort erwartet ihn eine feierlich und ernst dreinschauende Gruppe von Wissenschaftlern, die von ihm etwas erhofft, was er niemals erfüllen kann. Es geht um nicht mehr und nicht weniger als die Verbreitung des gigantischen Werks des namhaften kroatischen Schriftstellers Miroslav Krleža in dem unermesslich großen deutschsprachigen Verlagsgebiet. Er sei damals, wie der Autor schreibt, ein Bürschlein von etwa dreißig Jahren, der sich hymnisch über den kroatischen Goethe geäußert hatte. Mehr konnte er nicht erreichen. Krleža hatte Pech mit seinen Verlegern in Österreich und Deutschland, und nun hofften die gelehrten Herrschaften in Zagreb, dass der jugendliche österreichische Rezensent die Situation geradebiegen werde. Beim folgenden Abendessen erlebt er seine balkanische kulinarische Taufe: Krležas Intimus, Enes Čengić, serviert ihm nach einem alten orientalischen Brauch als besondere Ehre ein gebackenes Lammauge. Für den empfindsamen Schriftsteller aus dem feinen Salzburg war das ein grässliches Erlebnis, aber er musste das Auge schlucken. Er kannte diesen Brauch nicht, den der Bosniake Čengić in das mitteleuropäische Agram gebracht hatte. Dieser Art Ehrbezeugungen sind in Kroatien weitestgehend unbekannt. 
Malapartes Lüge von einer Schale voller Menschenaugen beim kroatischen Staatsoberhaupt Pavelić
Einige Zeit später verwandelt sich das ‘Zagreber Auge’ des Autors Gauß in eine Vielzahl von Augen, und das bei der Lektüre des Reisebuchs ‘Kaputt’ des italienischen Schriftstellers Curzio Malaparte, den er als Reporter, Kriegsheld, Faschist, Antifaschist, Kommunist und Dandy bezeichnet. Malaparte beschreibt in seinem Buch das Treffen mit dem kroatischen Staatsoberhaupt Ante Pavelić, der ihm bei Tisch eine Schale voller Menschenaugen gezeigt habe, als ‘Geschenk meiner Ustašas’, wie er sagte. Diese grauenvolle Geschichte ging um die Welt und fand sogar in ernsthaften Büchern Platz, obwohl sie eine sensationslüsterne Lüge war. Malaparte selbst hat sie, wie die kroatische Emigrantenzeitschrift ‘Hrvatska Revija’ berichtete, in der argentinischen Zeitung ‘La Razon’ dementiert mit der zynischen Bemerkung, es seien Johannisbeeren gewesen. Seine Lüge begründete er als sein Recht auf die licentia poetica. Gauß schreibt: ‘Wie man die Sache auch dreht und wendet, es fallen einem nur zwei Antworten ein: Entweder war dieser Schriftsteller so korrupt, dass er, um seine Vergangenheit zu verschleiern oder des bloßen Effektes wegen, jedwedes Ding schamlos verfälschte, wie es ihm beliebte; oder war er als Chronist einer schrecklichen Zeit selber so verroht, dass ihn die schlimmsten Verbrechen nicht mehr erschütterten und er fürchtete, mit ihnen allein auch sein Publikum nicht mehr erschüttern zu können; deswegen begann er, nicht die vertuschten Verbrechen in ihrer Banalität, sondern originellere zu erfinden’ (S. 114). Diese Begründung mutet sehr seltsam an, taugt doch die Lüge niemals als Hilfe, um die Wahrheit zu erfahren.  
Die Ustasa-Bewegung war nicht genuin faschistisch

Der österreichischer Autor übernimmt das propagandistische Klischee der Gegenseite, indem er über den kurzlebigen Unabhängigen Staat Kroatien (April 1941 bis Mai 1945) schreibt, dass die ‘kroatischen Ustasche jene Mordgarden (waren), die 1941 einen kroatischen Staat von Hitlers Gnaden errichteten…’ Indes verlief die Geschichte anders. Hitler wollte Kroatien zunächst an Hortys Ungarn übergeben, was dieser dankend ablehnte. Dann versuchte der Abgesandte des Außenamtes, Edmund Veesenmeyer, die Macht an den Präsidenten der pazifistischen Kroatischen Bauernpartei, Vladko Maček, weiterzureichen, aber auch dieser lehnte ab. Erst als dritte Option kamen Pavelićs Leute an die Reihe. In diesem politischen Vakuum fiel Kroatien als reife Frucht vom Baum des untergehenden Königreichs Jugoslawien in Ustašas Schoß. Dabei spielte Pavelić in seinem Exil keine Rolle, so dass nicht er, sondern der ehemalige österreichisch-ungarische Oberst Slavko Kvaternik am 10. April 1941 über Radio Zagreb den Unabhängigen Staat Kroatien (USK) ausrief. Dabei muss man erwähnen, dass sich die damalige politische Situation in Kroatien sehr kompliziert darstellte. Die Nationalisten, die mächtige Katholische Kirche sowie die einflussreiche Islamische Gemeinschaft begrüßten Pavelićs Regime zunächst; die Führung der Bauernpartei empfahl seinen Beamten, die neue Regierung zu unterstützen; die Kommunisten verhielten sich passiv, da sie unter dem Befehl der Komintern treu zum Hitler-Stalin-Nichtangriffspakt standen; die einheimischen Serben (etwa 20 Prozent der Bevölkerung von USK) waren überwiegend gegen die Ustaša-Regierung. Nachdem Pavelić gezwungen war, den größten Teil Dalmatiens an das faschistische Italien abzutreten, begangen auch viele Kroaten, sich von der Ustaša-Bewegung mit ihrem extremen Nationalismus und Elementen des Faschismus zu distanzieren. Das wiederum kam den Partisanen unter Führung der Kommunisten in ihrem immer erfolgreicheren Kampf gegen die Deutschen, Italiener und deren einheimischen Verbündeten zugute. Angesichts dieser Konstellation lassen sich der deutscher Nationalsozialismus und italienischer Faschismus, die in Friedenszeiten an die Macht gekommen waren, nicht mit dem kroatischen Ustaša-Nationalismus gleichstellen, da dieser als Protest gegen die königliche Diktatur in Jugoslawien entstanden war. Diese Tatsache entlastet ihn natürlich ebenso wenig von seinen Kriegsverbrechen wie die Kommunisten von ihren Untaten. 
Nach Ansicht des Autors war ‘Zagreb…das Vergessen verordnet worden, das Vergessen, dass hier ein genuin kroatischer Faschismus gewütet hatte…’ (S.118) Genuin bedeutet echt, naturgemäß, rein, unverfälscht, angeboren, erblich (Duden, Das Fremdenwörterbuch, S. 263). Auf die Ustaša-Vergangenheit bezogen, ist dies wissenschaftlich betrachtet eine nicht haltbare Behauptung, wie unter anderem Ernst Nolte in seinem Buch ‘Die faschistischen Bewegungen’, München, 1966, die Ustašas nicht als Faschisten bezeichnet (Nolte, S. 200,201), aber auch in Handlungen des nazistischen Deutschland und des faschistischen Italien gegenüber Ustaša-Emigranten vor dem Krieg erkennbar war: Berlin hatte nach der Ermordung des König-Diktators Aleksandar Karađorđević den Ustašas jegliche Tätigkeit verboten, während Rom sie auf den Liparischen Inseln internierte, übrigens gemeinsam mit einheimischen Antifaschisten. Zwei gegenüber dem USK sehr kritische Historiker, Ladislaus Hory und Martin Broszat, schreiben zum gleichen Thema: ‘Sofern zum vollausgebildeten Faschismus die abstrakte ideologische Festlegung und Rechtfertigung gehört, mag es deshalb angebracht erscheinen, die kroatische Ustascha als nur präfaschistisch oder halbfaschistisch zu bezeichnen, so unbefriedigend diese Begriffe bleiben…’ (Hory, Broszat: ‘Der kroatische Ustascha-Staat’,177). Auch die Kommunistische Partei zeigte Verständnis für die Ustašas, als sie deren Aufstand im Lika-Gebiet billigte, weil ‘das kroatische Volk im königlichen Jugoslawien unterdrückt war’ (Parteiblatt ‘Proleter’, Dezember 1932). 
Marx, Engels und Gauß haben den Kampf des Banus Jelačić nicht verstanden

Der Autor wundert sich über die Umbenennung von Straßen nach dem Untergang des Kommunismus, als ob dies nicht eine gängige Praxis wäre nach allen Staats- und System-Umwälzungen in Osteuropa; in Kroatien waren es fünf an der Zahl im 20. Jahrhundert. So wurde der ‘Platz für die Opfer des Antifaschismus’ in ‘Platz bedeutender Kroaten’ umbenannt; später – nach linken Demonstrationen – wieder in den alten Namen zurückversetzt; ähnlich erging es dem Platz der Republik, der nun wieder, wie früher, Banus Josip Jelačić-Platz heißt. Gauß beschreibt die Rolle des Banus im Jahre 1848 subjektiv verengt, betrachtet sie nur aus militärischer Perspektive. In Wirklichkeit eilte der Banus mit seinen Soldaten und russischen Einheiten den bedrängten Habsburgern zur Hilfe. Leider musste er als ‘Dank’ dafür erleben, wie die Donaumonarchie in das Österreich-Ungarische Kaiserreich umgewandelt wurde, so dass die kroatischen Länder zwischen Wien und Budapest aufgeteilt wurden. Jelačić kämpfte im Interesse des kleinen kroatischen Volkes ohne ideologischen Hintergrund, was Karl Marx und Friedrich Engels derart erzürnte, dass sie die Kroaten und andere südslawischen Völker auf schlimmste Art deutscher Nationalisten als ‘zum Untergang geweihte Restvölker’ beschimpften. Ihre Nachahmer im kommunistischen Kroatien ließen in Folge das Jelačić-Denkmal vom zentralen Zagreber Platz entfernen, ebenso wie sie vielen Straßen und Plätzen die Namen ihrer Helden und Märtyrer gegeben haben, ohne dass die Bürger Einfluss darauf gehabt hätten. Der kroatische Präsident Tuđman dagegen hatte die Entfernung vieler Partisanennamen von Straßen in kroatischen Städten nicht angeordnet, weil dies ausschließlich in der Zuständigkeit lokaler Behörden lag. So wurde erst 26 Jahre nach der kroatischen Unabhängigkeit der schönste Zagreber Platz, ursprünglich benannt nach Tito, in Platz der Republik Kroatien umbenannt. 
Weiterhin verwundert die offenbar mangelnde Kenntnis der Himmelsrichtungen des österreichischen Gastes. So will er das Denkmal des Feldherrn Jelačić so aufgestellt gesehen haben, ‘dass er dem verfluchten Belgrad drohte, dem Jelacic zeitlebens nie gedroht hatte.’ (S.119) Richtig ist, dass das Denkmal früher gen Norden stand, also in Richtung Ungarn; jetzt steht es gegen Süden. Serbien indes liegt bekanntermaßen im Osten. 
Eine seltsame Mischung aus wahren und unwahren Behauptungen

Wenn es um die Politik geht, macht Gauß vermeidbare Fehler. So spricht er von 100.000 im KZ Jasenovac umgebrachten Menschen, obwohl die offizielle Statistik von 83.000 berichtet, was grausam genug ist, von ernsthaften Historikern aber beide Zahlen in Frage gestellt werden. Gauß erwähnt nicht, dass der Zagreber Erzbischof Alojzije Stepinac das KZ Jasenovac als ‘dunklen Fleck in der kroatischen Geschichte’ bezeichnete. Der Autor lobt den slawophilen Bischof von Đakovo, Josip Juraj Strossmayer; gleichzeitig erschreckt er vor den Worten an einer Hauswand: ‘Kein Cyrillisch in Vukovar’ und bemerkt weiter, dass die kroatische Armee nach dem Fall von Vukovar ‘Abertausende Serben aus der Krajina und Slawonien vertrieben hat, deren Vorfahren schon seit Menschengedenken dort gelebt hatten.’ Seine Gedanken dabei beschreibt er so: ‘Ich schritt in die Stadt hinunter, und es wuchs in mir wieder einmal der bittere Zorn darüber, wie wenig gerade die Nationalisten von der Geschichte ihrer Nationen wussten.’ (S. 131). Gauß scheint nicht bekannt zu sein, dass die Krajina-Serben ihren Exodus selber organisiert haben, wie es der kroatische Historiker der jungen Generation, Nikica Barić, dokumentarisch in seinem Buch ‘Srpska pobuna u Hrvatskoj 1990-1995, Zagreb, 2005, (Serbischer Aufstand in Kroatien 1990-1995) nachweist. Die cyrillische Schrift weckt bei vielen Bewohnern von Vukovar bittere Erinnerungen an Gewalt, die sie durch die sogenannte Jugoslawische Volksarmee und serbische Paramilitärs erdulden mussten. Und diese haben dabei diese Schrift benutzt.
Henry Kissinger über Tuđmans Verdienste

Nostalgisch schlendern der Autor und sein Übersetzer Perić durch den schönen Zagreber Friedhof Mirogoj, vorbei an Gräbern bedeutender Kroaten des 19. Jahrhunderts. Schließlich besuchen die beiden Mirogoj-Besucher auch das Grab des kroatischen Präsidenten Franjo Tuđman. Auch hier sieht der Autor etwas, was es dort nicht gibt: ‘Gleich hinter dem Eingang waren zwei überdimensionale schwarze Marmorplatten ausgelegt, in einer übertriebenen Geste des Schmerzes, als läge darunter kein Mensch, sondern ein Riese, und auf der oberen Platte stand in großen goldenen Buchstaben, dass hier Dr. Franjo Tudjman ruhte, der Präsident und oberste Akademiker der Nation’ (S. 144). Tudjmans Grab ist nicht außergewöhnlich im Vergleich zu den Ruhestätten anderer Staatsmänner. An der obersten Platte seines Grabes steht geschrieben: ‘Dr. Franjo Tuđman (1922-1999) Erster Präsident des Republik Kroatien’. Wo Gauß die Aufschrift ‘Oberster Akademiker der Nation’ gesehen haben will, bleibt rätselhaft.
Im heutigen Kroatien finden Tuđmans erbitterte Gegner von einst lobende Anerkennung für ihn, indem sie seine politischen Meinungen zitieren. Beispielhaft seien hier die vorausschauenden Worte des ehemaligen amerikanischen Außenministers Henry Kissinger zitiert: ‘Herr Präsident, Sie haben große Verdienste für ihr Volk erworben, weil Sie in einer geschichtlichen Situation an seiner Spitze standen und die Schaffung seines Staates ermöglichten. Aber wie alle großen Männer werden Sie keine Zeichen der Dankbarkeit dafür bekommen. Das werden erst die nächsten Generationen tun. Sie werden ein großer Mann der kroatischen Geschichte werden, jedoch nicht, solange Sie leben, sondern erst dann, wenn die Beurteilungen mit kühlem Kopf getroffen worden sind.’

Datum objave: 16.10.2017.