Von Michael Martens, Zagreb
(Korrespondent für südosteuropäische Länder mit Sitz in Wien)


Kroatien ist das jüngste Mitgliedsland der EU und wird das womöglich noch viele Jahre bleiben, denn neue Erweiterungen sind einstweilen nicht in Sicht. Enthusiasmus für die EU ist allerdings nicht verbreitet bei dem südosteuropäischen Neuling, weshalb auch Angela Merkels einziger Auslandsauftritt im Europawahlkampf, mit dem die Kanzlerin am Samstag in Zagreb den konservativen Spitzenkandidaten Manfred Weber unterstützen will, am Ort des Geschehens nicht auf allzu großes Interesse stößt.

Die Regierungspartei HDZ (Kroatische Demokratische Gemeinschaft), stärkste Kraft der Zagreber Koalition, versucht natürlich dennoch, den Kanzlerinnenbesuch für sich zu nutzen. Die HDZ ist Merkels CDU und Webers CSU über die gemeinsame Zugehörigkeit zur Europäischen Volkspartei (EVP) verbunden, auch deshalb will man Einigkeit demonstrieren. Merkels Auftritt in Zagreb sei eine Bestätigung der starken Position Kroatiens innerhalb der EU, ließ ein HDZ-Sprecher dieser Tage verlauten.

Der frühere kroatische Außenminister Miro Kovač drückt es gegenüber der F.A.Z. ähnlich positiv aus: ‘Der Besuch Angela Merkels in Kroatien wird ihr vierter und der fünfte eines deutschen Bundeskanzlers in den vergangenen 16 Jahren sein. Deutschland ist ein Freund und zugleich Kroatiens wichtigster Handelspartner’, sagte der HDZ-Politiker, der Vorsitzender des außenpolitischen Ausschusses im kroatischen Parlament ist.

Deutschland ist aber auch ein Partner mit erheblichen Nebenwirkungen für Kroatien. Seit es durch den EU-Beitritt 2013 noch einfacher geworden ist, haben Zehntausende Kroatinnen und Kroaten ihre Heimat verlassen, um in den wohlhabenden EU-Staaten weiter nördlich zu arbeiten.

Allein in Deutschland leben mehr als 375.000 Kroaten. Viele von ihnen waren zwar schon vor dem EU-Beitritt da, aber danach ist die Abwanderungsbewegung stark gewachsen. In den vergangenen Jahren sind in Deutschland jährlich etwa 30.000 Kroaten hinzugekommen. Kroatien hat offiziell noch etwas mehr als vier Millionen Einwohner.

Belastung für Kroatiens Sozialsysteme

Die Auswanderung beginnt, Kroatiens Sozialsysteme ernsthaft zu belasten. ‘Es kann nicht im Interesse der EU liegen, dass Kroatien und andere jüngere EU-Mitgliedstaaten massiv Fachkräfte verlieren’, sagt Kovač. Kroatien allein könne sich dagegen nicht stemmen, Maßnahmen auf europäischer Ebene seien nötig. Doch welche Maßnahmen könnten das sein, da man in der EU nun einmal niemanden daran hindern kann, in einen anderen Mitgliedstaat umzusiedeln?

Die Lage sei jedenfalls ernst, sagt die Migrationsforscherin Caroline Hornstein-Tomić vom Zagreber Ivo-Pilar-Institut für Sozialwissenschaften. Zwar lasse sich noch nicht zuverlässig sagen, ob sich die Abwanderung insbesondere junger, gut ausgebildeter Menschen zu einer dauerhaften Emigration verstetigen werde. Doch wenn große Teile der produktivsten Bevölkerungsgruppe das Land weiter in Scharen verließen, könnten die Folgen für Kroatien bedrohlich werden: ‘Bedrohlich für die demographische Entwicklung, für das Rentensystem, für das Wachstum und die Wettbewerbsfähigkeit der heimischen Wirtschaft.’

Viele kroatische Arbeitgeber spüren diese Gefahr schon jetzt, wie die Zagreber Wochenzeitung ‘Globus’ unlängst berichtete. Obwohl die Regierung die Zahl der Arbeitserlaubnisse für Ausländer aus Nicht-EU-Staaten deutlich erhöht habe – von 9000 im Jahr 2017 auf 65.000 in diesem Jahr, seien insbesondere der Bau und die Tourismusbranche von einem Mangel an Arbeitskräften betroffen.

Gewerkschaften wehren sich jedoch gegen eine weitere Erhöhung. Begründung: Während massenhaft Kroaten ihre Heimat verlassen, um anderswo mehr zu verdienen, sei es keine Lösung, die Löhne in Kroatien durch den Zuzug von Arbeitskräften aus Billiglohnländern künstlich niedrig zu halten – nur um auf diese Weise noch mehr Einheimische zur Abwanderung zu bewegen.


Seit Menschengedenken ein Auswanderungsland

Laut Davorko Vidović, Berater der kroatischen Handelskammer für Arbeitsmarktfragen, ist der Mangel an geeigneten Arbeitskräften im Bau, im Tourismus und in Teilen der nahrungsmittelverarbeitenden Industrie längst eine Realität, die sich noch zu verschärfen drohe. Vidović weist darauf hin, dass im kommenden Jahr die Übergangsfristen für Kroaten beim freien Zugang zum österreichischen Arbeitsmarkt auslaufen werden.

Die Lage für Kroatien wird laut der Zeitung ‘Jutarnji List’ aber auch deshalb noch schwieriger, weil traditionelle Arbeitskräftereservoirs für die kroatische Wirtschaft wie Bosnien-Hercegovina und Serbien sich ebenfalls langsam leeren. Arbeitgeber sähen sich deshalb in wachsendem Maße in Indien, Pakistan, Bangladesch oder auf den Philippinen um.

Das ist freilich ein Gedanke, mit dem sich viele Kroaten nicht anfreunden können und wollen. Kroatien ist seit Menschengedenken ein Auswanderungsland – aber nennenswerte Einwanderungserfahrungen hat es, abgesehen von der Zuwanderung bosnischer Kroaten, bisher nicht. ‘Dass Kroatien nicht nur aus demographischen Gründen, sondern auch aufgrund des Fachkräftemangels auf Zuwanderung angewiesen sein wird, ist noch kaum Gegenstand der öffentlichen Diskussion‘, bestätigt Hornstein-Tomić. Das gelte besonders für jene Teile der Gesellschaft, die ‘Europa’ als neue Kolonialmacht wahrnähmen.

In solchen Kreisen hofft man darauf, die Abwanderung zu verlangsamen oder ausgewanderten Kroaten Angebote zur Rückkehr zu machen. ‘Wenn Ärzte mit attraktiven Angeboten systematisch nach Deutschland oder Österreich abgeworben werden, wenn Pflegepersonal, Handwerker und andere Fachkräfte allerorts fehlen, ist es ja auch tatsächlich höchste Zeit, zu überlegen, wie man solche Menschen halten oder zurückgewinnen kann’, sagt die Wissenschaftlerin.

Allerdings könnten Rückkehrer keineswegs immer damit rechnen, mit offenen Armen empfangen zu werden.
Schon manche Rückkehrer hätten bittere Erfahrungen machen müssen, weil sie als Konkurrenz aus Netzwerken ferngehalten wurden. Ohnehin, so Hornstein-Tomić, werde es auf absehbare Zeit wohl dabei bleiben, dass Kroatien einen beträchtlichen Teil seiner jungen Generation an das Ausland verliere. In Kroatien fördert das eine Sicht, in der die EU als eine Art unheilvoller Magnet erscheint. Mit Anti-Brüssel-Rhetorik lässt sich zwar weiter keine Wahl gewinnen. Doch erfährt man ‘Europa’ eben nicht nur als Segen, mit dem sich teure Infrastrukturmaßnahmen finanzieren lassen.


Quelle: faz.net





Autor: CroExpress Datum objave: 18.05.2019.